Im Gegenteil - Ist die Wahrheit den Menschen zumutbar?

Im Gegenteil - Ist die Wahrheit den Menschen zumutbar?

Wahrheit ist ein großes Wort und ein hoher Anspruch. Es gibt nicht nur eine, sondern viele Arten, sich um die Wahrheit zu bemühen, und verschiedene Menschen werden damit verschiedene Vorstellungen verbinden. Dabei kann einem die Frage in den Sinn kommen, ob die von einem Menschen erkannte Wahrheit anderen zumutbar ist? Als die Schriftstellerin Ingeborg Bachmann 1959 mit dem Hörspielpreis der Kriegsblinden ausgezeichnet worden ist, hat sie in ihrer Dankesrede darauf positiv geantwortet und verkündet, „Die Wahrheit ist den Menschen zumutbar.“ Für sie bestand die Möglichkeit der Schriftsteller darin, „die anderen zur Wahrheit zu ermutigen“, und die Aufgabe dieser anderen lautete, „die Wahrheit von ihm fordern“. Doch stimmt das?

Seit Bachmanns Rede konnten die Wissenschaften so viele alltagsrelevante Fortschritte machen, dass sich die Medien bald sorgten, ob ihre vielen Erkenntnisse den Menschen zugemutet werden können oder ob man vielleicht besser daran täte, Teile des Volks zu täuschen oder in einem beruhigenden Irrtum verharren zu lassen, wie im Jahre 1780 – in Zeiten der Aufklärung – die Preisfrage der Berliner Akademie der Künste wissen wollte. Und tatsächlich: Wer kann heute mit den unentwegt einlaufenden Informationen zum bedrohlichen Klimawandel, zum beängstigenden Artensterben, zur zunehmenden Knappheit an Ressourcen und zum unerträglich wachsenden Schuldenberg vieler Nationen noch zurechtkommen und die erstaunliche Wissensvielfalt verarbeiten und einordnen? Wer kann mit all den permanent über immer mehr Kanäle auf das Publikum zuströmenden Auskünften zu steigenden Erdtemperaturen, wachsenden Atomwaffen­arsenalen, der weiterhin um sich greifenden Pandemie sowie dem Krieg in der Ukraine noch ruhig schlafen?

Als in den Jahren der Weimarer Republik in den Straßen viele verkrüppelte Kriegsveteranen auftauchten, hat Brecht den „Nachgeborenen“ „Unempfindlichkeit“ empfohlen, um damit umgehen zu können. Heute ist die Öffentlichkeit bei Schreckensmeldungen längst abgestumpft, und viele Menschen reagieren gleichgültig auf die Wahrheiten, die ihnen im Überfluss auf das iPhone gespielt werden. Da wissen sie am besten, wie man sie wegdrückt. Man daddelt sich dämlich. Ingeborg Bachmann würde solch ein Publikum für unzumutbar halten.

  • Ausgabe: Mai
  • Jahr: 2022
  • Autoren: Ernst Peter Fischer
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