Azubi-Zahl stagniert – Fachkräftemangel hält an: Zeit zum Handeln!

Azubi-Zahl stagniert – Fachkräftemangel hält an: Zeit zum Handeln!

Aktueller Zustand und Zukunft der Auszubildenden aus der Sicht eines Berufsschullehrers

Die Galvano- und Oberflächentechnik ist ein umfangreiches und spannendes Gebiet. Einige Bereiche ändern sich über Jahre vermeintlich wenig: Sie beschichten zahlreiche Produkte in hoher Qualität für die Zufriedenheit ihrer Kunden. Andere suchen und reizen immer wieder die Möglichkeiten der Elektrochemie aus, um noch etwas dünner, schneller oder effizienter bessere Eigenschaften der Schichten zu erreichen. Ebenso vielseitig sind die Einsatzgebiete der dekorativen und funktionellen Schichten in allen Bereichen unseres Lebens.

Nach der Wirtschaftskriese vor rund 15 Jahren, der Umsetzung der REACh-Verordnung mit den umfangreichen Ein- und Beschränkungen und der Coronakriese mit der Unterbrechung zahlreicher Lieferketten sind aktuell die Energie- und Umwelttechnik im Fokus der Öffentlichkeit. Unter diesen variablen äußeren Einflüssen müssen sich natürlich auch die Aufgaben und Herausforderungen der beteiligten Firmen mit ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ändern. Um diese Anforderungen meistern zu können, braucht es neben den betrieblichen Voraussetzungen auch kompetente Fachkräfte. Kompetent mit der Fähigkeit, aus verschiedenen technischen Möglichkeiten das geeignete Verfahren auswählen zu können.

Auszubildende sind die Fachkräfte von morgen

Frank Tischlinger vor der Fachschule Solingen. Der Fachlehrer plädiert dafür, Auszubildende mit Schwierigkeiten gezielt zu fördern (Foto: Robert Piterek)Frank Tischlinger vor der Fachschule Solingen. Der Fachlehrer plädiert dafür, Auszubildende mit Schwierigkeiten gezielt zu fördern (Foto: Robert Piterek)Zurzeit mangelt es in vielen Bereichen an Fachkräften. Besonders die handwerklichen Berufe sind hiervon stark betroffen. Während auf kaufmännische Stellen vielfach hunderte Bewerbungen eingehen, sind es in technischen Berufen häufig nur einzelne. Und diese erfüllen teilweise nicht die Anforderungen oder Wünsche der Betriebe.

Regelmäßig erhalten wir als Berufsschule (Ausbildung zum Oberflächenbeschichter/zur Oberflächenbeschichterin) oder als Fachschule (Weiterbildung zum Staatlich geprüften Techniker/zur Technikerin, Fachrichtung Galvanotechnik) Stellenausschreibungen, die häufig nicht besetzt werden. Die Auszubildenden und Studierenden bleiben in der Regel bei „ihren“ Betrieben.

Wer Stellen mit Fachkräften besetzen möchte, muss selbst bei der Aus- und Weiterbildung tätig werden. Dazu gehören auch Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen, die später weitergebildet werden. Damit sind die Auszubildenden die Fachkräfte von morgen.

Betriebe und Berufsschulen sind verantwortlich

Die Ausbildung erfolgt im Betrieb und in einer Berufsschule. Dabei sind beide Standorte für die gesamtheitliche Ausbildung in Theorie und Praxis verantwortlich. Die sonst in technischen Berufen übliche Überbetriebliche Ausbildung/Leistungen (ÜBA oder ÜBL) gibt es im Bereich der Oberflächentechnik nicht. Deren Angebot kann durch die Berufsschule (siehe unten) oder durch Entsendung der Auszubildenden in andere Betriebe realisiert werden.

Während die Betriebe den Auszubildenden/die Auszubildende in die eigenen Abläufe und eingesetzten Techniken einweisen, vermittelt die Berufsschule ein breites Grundwissen im Bereich der Galvano- und Oberflächentechnik. Und natürlich auch in Wirtschaft und Politik und weiteren Fächern des Lehrplans.

Weniger Auszubildende, die nicht alle ausbildungsfähig sind

Gemessen an den erfolgreichen Abschlüssen gelingt die Ausbildung den Betrieben und Berufsschulen gut. Aber nicht gut genug und es ging schon einmal besser. Vor rund 15 Jahren lag „unsere“ Erfolgsquote bei deutlich über 80 %. Seitdem ist sie fast kontinuierlich auf zurzeit unter 67 % gesunken.

Uns besorgt diese Entwicklung und wir tauschen uns intensiv mit den Ausbildern und Ausbilderinnen der Betriebe über mögliche Ursachen aus. Neben zahlreichen Gründen (wie mangelnde Zeit, wechselndes Personal, schlechte Ausstattung, zusätzliche Aufgaben) stellen Betriebe und Schulen fest, dass sich auch die Auszubildenden geändert haben. Es gab und gibt immer die „Überflieger“, die mit Einsen durch die Schule gehen und die Abschlussprüfung gut bestehen. Diese sieht man fast immer als Meister/Meisterin oder Techniker/Technikerin wieder.

Es gab und gibt immer das „Mittelfeld“, das nicht mehr leisten möchte oder kann, aber im Betrieb zuverlässig die zugeteilten Arbeiten durchführt.

Die Anzahl der Auszubildenden, die enorme Schwierigkeiten haben wächst

Auf der anderen wächst die Anzahl der Auszubildenden, die enorme Schwierigkeiten haben. Schwierigkeiten schon beim Lösen von Textaufgaben; dem Berechnen von Längen, Flächen und Volumina, dem Umstellen von Gleichungen, der Verhältnisrechnung (früher Dreisatz), der Bedienung des Taschenrechners, dem Verständnis für die Einheitenvorsätze (Milli, Zenti, Dezi etc.) oder Potenzen. Das ist Lernstoff aus den Klassen 6 bis 8.

Dieser Anteil ist in den letzten Jahren stark gestiegen und ich schätze ihn zurzeit auf 10–20 %.

Ein erheblicher Anteil der Auszubildenden ist nicht ausbildungsfähig, wenn schon die Grundlagen der Mathematik nicht sicher beherrscht werden. Nicht besser sieht es in der Chemie (Verbindungen, Reaktionen, Stöchiometrie) oder der Elektrotechnik (Ladungen, Stromstärke-/dichte, Widerstände, Spannung, Schaltungen, Bauelemente, Heizung) aus. Erst mit diesen Fähigkeiten können die Grundlagen der Metallabscheidung, die Elektrolyte mit ihren Bestandteilen und die Anlagentechnik vermittelt werden.

Förderung und Zusammenarbeit

Wir können nicht warten, bis sich ausreichend viele Auszubildende mit aufbaufähigen technischen Grundkenntnissen bewerben. Das wird nicht passieren. Mit der stagnierenden Anzahl von Auszubildenden und dem herrschenden Fachkräftemangel müssen wir jetzt handeln. Wir können nicht auf lernschwache Lehrlinge verzichten. Hier gilt es zu fördern. Das gilt für die Betriebe in Form von aktiver Ausbildung und Unterstützung bei Fachinhalten, der Vor- und Nachbereitung von Lernstoffen, evtl. der Beantragung von arbeitsbegleitenden Hilfen bei der Agentur für Arbeit und vor allem für den Austausch mit den beteiligten Lehrkräften. Die Berufsschulen bieten ihrerseits Unterstützung und Förderung an.

Wir nennen diese Herausforderung „Binnendifferenzierung“: Gute Schüler und Schülerinnen fordern, die anderen fördern. Mit Hilfe der Digitalisierung ist es möglich, z. B. Aufgaben mit unterschiedlichem Schwierigkeitsgrad zu stellen.

Vielleicht muss man sich nach dem ersten Ausbildungsjahr auch eingestehen, dass es trotzdem nicht reicht und Alternativen zur Ausbildung suchen. Aber wir müssen es versuchen!

Wir unterstützen alle Auszubildenden, den Abschluss zu schaffen. Wir holen sie mit den Grundlagen der Mathematik und Naturwissenschaften ab und führen sie durch die Anlagen-, Fertigungs- und Beschichtungstechnik bis zur Prüfung. Dafür brauchen wir den Austausch und die Unterstützung der Betriebe.

Die Schulen liefern keine fertigen Fachkräfte

Sowohl die Ressourcen der Betriebe als auch die der Schulen sind begrenzt. Deshalb muss deutlich werden, welche Aufgaben die beiden Partner nach dem Ausbildungsrahmenplan und dem Rahmenlehrplan haben und leisten können.

Die Berufsschule kann nicht die gesamte Oberflächentechnik vom kleinen Einmaleins bis zur Vertiefung der verschiedenen Sonderverfahren vermitteln. Wir können keine fertigen Fachkräfte für alle Betriebe in allen Fachgebieten liefern. Aber wir unterrichten die notwendigen theoretischen Grundlagen von der Vorbehandlung und den Eigenschaften der verschiedenen Werkstoffe, über den Einsatz und die Arbeitsweise der verschiedenen Elektrolyte sowie Zwischen- und Nachbehandlung bis hin zur Anlagen- und Abwassertechnik mit Analytik und Vorgaben. Damit wird das Fundament für eine Spezialisierung und den Einsatz im Betrieb geliefert.

Das Technische Berufskolleg in Solingen ist für die aktuellen und zukünftigen Aufgaben gut aufgestellt. Mit mindestens sechs Fachlehrern vermitteln wir die Lerninhalte der beiden Schwerpunkte „chemische und elektrochemische Abscheidung von Metallen“ und die „Anodisationstechnik“. Die weiteren Schwerpunkte Dünnschichttechnologie und Feuerverzinken werden als Sonderverfahren unterrichtet. Ebenso vertiefen wir das informationstechnische Wissen vom üblichen „Wischen“ hin zum bedarfsgerechten Einsatz kommerzieller Programme und Applikationen. Wir hoffen, hierdurch die Auszubildenden auf die Anwendung zukünftige digitaler Hilfen, Unterstützungen und Automatisierungen vorzubereiten.

In dem neuen Galvanik-Technikum haben wir zusätzlich die Möglichkeit, alle gängigen technischen Beschichtungsverfahren praktisch durchzuführen. Dieses Angebot gibt es für die Auszubildenden (gerade von den zahlreichen spezialisierten Firmen) sonst nur im Rahmen einer Überbetrieblichen Ausbildung (ÜBA). In Kürze werden die mechanische Werkstatt und die mechanische Vorbehandlung (Schleifen und Polieren) fertiggestellt. Ebenso wird das Chemielabor zurzeit für Grundlagenversuche und moderne Analytik ausgestattet und eingerichtet. Mit diesen Laboren und vier medial vollständig ausgestatteten Unterrichtsräumen entsteht in Solingen ein Galvano-Zentrum. Bei Bedarf statten wir die Auszubildenden auch mit digitalen Endgeräten aus.

Eins ist sicher: Fachkräfte werden weiter gebraucht

Die Galvano- und Oberflächentechnik hat eine jahrhundertealte Geschichte und eine verheißungsvolle Zukunft. Ob als Oberflächenbeschichter/Oberflächenbeschichterin, als Meister/Meisterin oder als Techniker/Technikerin: Mit einem breiten Wissensfundament und der Bereitschaft, darauf aufzubauen, sind die Perspektiven unverändert gut und die Einsatzgebiete vielseitig.

 

  • Ausgabe: August
  • Jahr: 2023
  • Autoren: Frank Tischlinger
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