Gebäude evakuieren: Norm 14036 neu gefasst

Solche statischen Rettungshinweise in Gebäuden dürften bald der Vergangenheit angehören. Die neue TFT-Technik wird zukünftig flexible Displays ermöglichen; Foto: stock.adobe.com/523945986

Mit der überarbeiteten DIN 14036 erhielten moderne Fluchtlenksysteme nun auch eine moderne Norm. Salopp ausgedrückt: Die dynamische und die adaptive Fluchtlenkung wird salonfähig.

Wesley Mercer ist Vice President of corporate Security der amerikanischen Großbank Morgan Stanley, deren New Yorker Sitz sich ab dem 44. Stock und höher des World Trade Center (WTC) befindet. Mercer ist nicht gerade beliebt, denn immer wieder löst er Probealarme aus und übt die Evakuierung der Etagen zum Erbrechen. Er ist überzeugt davon, dass es früher oder später einen Anschlag auf das Gebäude geben und dass dieser aus der Luft kommen wird. Als sann am 11. September 2001 um 8.46 Uhr ein Flugzeug zunächst in den Nordturm des WTC einschlägt, wird seine Prophezeiung auf grausame Weise Realität.

Mercer gibt sofort Alarm und der Drill der vergangenen Jahre zahlt sich jetzt aus. Reflexartig und ohne Panik verlassen die Mitarbeiter und er selbst ihre Büros durch das Treppenhaus. Zunächst problemlos, bis um 9.03 Uhr auch der Südturm getroffen wird. Da sind die Mitarbeiter der Bank aber schon im 20. Stock. Sie sehen, wie die Wände Risse bekommen und die Treppengeländer sich zu verbiegen beginnen. Die Situation wird gefährlich. Sie beginnen zu rennen. Dann haben sie es geschafft. Nur acht Minuten später stürzt der Südturm ein. Doch von den mehr als 300 Mitarbeitern der Bank sind die allermeisten gerettet. Nur 13 sterben. Darunter Wesley Mercer.

Morgan Stanley hat damit prozentual die wenigsten Opfer des Anschlags zu beklagen, dem ungeliebten Drill des Sicherheitschefs sei Dank. Die Statistiken rechtfertigen solche Übungen mit beeindruckenden Zahlen. In einem Brandfall beispielsweise verbleiben den Menschen in einem Haus keine zehn Minuten, um das Gebäude zu verlassen. Wer bei Eintreffen der Feuerwehr noch im Haus ist, dessen Überlebenschance geht gegen Null.

Erkenntnisse solcher Art haben in europäischen Ländern zu Maßgaben geführt, die unter anderem ein weitreichendes Risiko- und Brandschutzmanagement für Gebäude vorschreiben. Eine Vorschrift betrifft den Fall der Evakuierung. Der Gefahren, die eine solche nötig machen könnten, sind es in der Tat viele: Wie wir in den vergangenen Tagen im vergleichsweise friedlichen Deutschland gesehen haben, wächst hier die Gefahr terroristischer Anschläge. Das Wetter beschert uns auch in unseren gemäßigten Breiten extreme Situationen, und die Verdichtung des Raumes führt in einem Brandfall zu ausgedehnteren Schäden.

Die in einem Gebäude vorhandenen Sicherheitseinrichtungen müssen also in der Lage sein, Bewohner und/oder Beschäftigte rechtzeitig zu alarmieren und im Fall der Evakuierung (das Gesetz spricht von Selbstrettung) zuverlässig und rasch ins Freie zu führen. Eine erste Grundlage dafür sind die Bauvorschriften der Länder. Jene schreiben unter anderem vor, dass Fluchtwege kurz und barrierefrei sein müssen. Im Ernstfall nutzt diese Vorschrift zunächst einmal gar nichts. Denn was ist, wenn sich die Gefahrenquelle ausgerechnet im kurzen Fluchtweg befindet? Oder wenn dieser zwar frei sein könnte, jedoch wegen Raumknappheit als vorübergehendes Lager benutzt wird?

Veränderte Situationen im Gefahrenfall könnten zudem die Evakuierung eines Gebäudes stören oder gar unmöglich machen. So kann sich zum Beispiel ein Brand dynamisch entwickeln und vorgegebene Fluchtwege ergreifen. Oder die Flüchtenden befällt die Panik, Behinderte können nicht mehr weiter oder es kommt zu Kommunikationsproblemen während der Evakuierung.

Mindeststandards einhalten: Aktive und dynamische Fluchtwege

Als Notfallhinweise vor allem in Unternehmen werden diese grünen Kennzeichen jedoch sicher überleben; Foto: stock.adobe.com/33143654Bei der Mindestausstattung handelt es sich um einen mit Rettungsweghinweisen gekennzeichneten Fluchtweg, der im Idealfall beleuchtet ist. Selbstverständlich ist klar, dass diese Beleuchtung von einer Notstromquelle gespeist ist. Idealerweise sind die Hinweisschilder hinterleuchtet, so dass sie auch im Dunklen oder einer rauchgeschwängerten Atmosphäre zu sehen sind. Praktisch ist auch, wenn diese Wegweiser in den unteren Bereichen der Räume, Gänge oder Treppenhäuser installiert sind, weil sie in einem Brandfall an der Decke nicht mehr zu lesen sein könnten. Der Idealfall wäre, sie doppelt anzubringen, d. h. unten und oben.

Bei dieser einfachsten aller Rettungsmaßnahmen spricht die Norm von einer „aktiven Fluchtweglenkung“. Und das sehr zu unrecht. Denn aktiv geschieht in einem Gefahrenfall ja gar nichts. Ein Fluchtweg ist zwar vorhanden, alles andere muss jedoch das Opfer selber tun.

Eine bessere Variante ist die „dynamische Fluchtweglenkung“. In diesem Fall sind die Richtungszeichen mit Rauchmeldern gekoppelt. Jene liefern ständig Informationen an die Rettungszeichen, die die Richtungsangaben dann selbständig korrigieren und die Flüchtenden so in ungefährliche Fluchtwege oder Gebäudebereiche umleiten. Die neueste Generation dieser Rettungszeichen basiert auf der Dünnschicht-Transistor-Technologie (TFT) und kann zahlreiche verschiedene Piktogramme anzeigen. Zum Beispiel kurze, aber anspruchsvolle Fluchtwege (z. B. über ein Fenster) oder längere, aber einfache Wege (z. B. für Behinderte).

Mehr als 80 % der Opfer von Brandkatastrophen sterben an Rauchvergiftung, meist an Kohlenmonoxid, und nicht in den Flammen. Die Rettungswegzeichen sind deshalb mit Rauchmeldern und nicht mit Feuermeldern gekoppelt.

Als sinnvoll haben sich auch Leuchtmarkierungen auf dem Fußboden herausgestellt, so wie es sie in Flugzeugen seit Jahren gibt. In der besten Ausstattung geben LE­D-Leuchtmittel im Leuchtstreifen die Fluchtrichtung vor, indem sich die Lichtsignale in die Fluchtrichtung bewegen.

ZUR INFO

Die DIN 14036

Der Entwurf der jetzt gültigen „DIN 14036 – Dynamische und Adaptive Fluchtwegslenkung – wurde bereits im Januar 2023 vorgestellt. Erarbeitet hat sie der Normenausschuss Feuerwehrwesen.

Inhalt der Norm sind Vorgaben für die Planung und Umsetzung richtungsvariabler Konzepte.

Der Anhang A widmet sich Projektbeispielen für die dynamische, der Anhang B für solche der adaptiven Fluchtwegslenkung.

 

Komplexer High-End-Bereich

Die neueste, aber auch komplexeste, Fluchtweglenkung ist die sogenannte „adaptive Fluchtweglenkung“. Dabei handelt es sich um ein System intelligent verknüpfter Komponenten zur Detektierung, Alarmierung und Evakuierung im Notfall. Dazu müssen folgende Arbeitsschritte ineinander greifen:

  • elektronische Detektierung sämtlich möglicher Fluchtwege
  • automatische Aktivierung von Wegstreifen und Rettungszeichen
  • gefahrenangepasste Signalisierung des sichersten Fluchtwegs

Um dies zu erreichen bedarf es eines ausgefeilten Systems für die Überwachung eines gesamten Gebäudes. Das heißt, eine gesamte Galvanik z. B. ist mit Sensoren und Videokameras ausgestattet, die ihre Erfassungsergebnisse an Aktoren weitergeben. Jene sperren dann gewisse Wege, um andere Wege freizugeben. Oder auch, um Fluchtinformationen auf im System gespeicherte Mobiltelefone zu senden. Ein derart intelligentes System hat beispielsweise auch viele Vorteile.

Einige davon sind:

  • Flexible Anzeige sicherer Fluchtwege
  • Einfachere Orientierung
  • Mehrere angezeigte Fluchtwege entlasten andere
  • Besondere Berücksichtigung Behinderter
  • Rettungskräfte werden entlastet.

Da in die entsprechende DIN 14036 diese Art der Evakuierungsführung jetzt aufgenommen wurde, erwarten Experten einen regelrechten Innovationsschub an entsprechenden Systemen und Komponenten, sind die Un-
wägbarkeiten doch jetzt beseitigt. Das wird nicht nur zu größerer Sicherheit im Brandfall führen, sondern auch andere Szenarien wie Chemie-, Hochwasser- oder Terrorvorfälle sicherer handhabbar machen.

Soweit die Technik. Eine Herausforderung für Forschung und Entwicklung wird zukünftig jedoch vor allem auch die Psyche des Menschen sein, der in Gefahrensituationen unerwartet vernünftig, oft panisch, vielfach ängstlich oder auch draufgängerisch reagiert. Diese Reaktionen werden einfließen müssen in die technischen Produkte.

  • Ausgabe: Juni
  • Jahr: 2024
  • Autoren: Heinz Käsinger
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