Die Digitalisierung bietet auch in der Galvanotechnik große Potentiale. Besonders die Verwendung von anfallenden Daten zu Verbesserung der Elektrolytführung, der vorausschauenden Anlagenwartung oder Steigerung der Qualität stellt ein spannendes Anwendungsgebiet dar. Der Artikel bietet eine Übersicht zu Chancen und Hemmnissen bei der Einführung der Industrie 4.0, erläutert häufig verwendete Begriffe und führt in das Themengebiet rund um die Datenerfassung, Datenanalyse und die Simulation ein. Abschließend werden anhand von Praxisbeispielen aus Projekten des Fraunhofer IPA, des IFF der Universität Stuttgart und des IWF der TU Braunschweig erste KMU-taugliche Lösungen für die digitale Transformation in der Galvanotechnik vorgestellt.
1 Einführung
Die Digitalisierung der Industrie wird heute international als Industrie 4.0 bezeichnet. Die Entstehung kann auf ein Zukunftsprojekt aus dem Jahr 2011 zurückgeführt werden, das im Rahmen der Hightech-Strategie der Bundesregierung lanciert wurde [1]. Ein zentraler Bestandteil sind hierbei cyber-physische Systeme, welche die physischen Produktionsprozesse mit Daten aus der Cyber-Umgebung verknüpfen. Entscheidend beeinflusst die Industrie 4.0 somit nicht nur die Produktionsprozesse, sondern auch viele Geschäftsmodelle werden zusehends in Frage gestellt bzw. im Kontext der Digitalisierung weiterentwickelt [16].
Für die Herstellung galvanotechnischer Oberflächen ist das Zusammenspiel einer Vielzahl von Einflussgrößen erforderlich, das sich von der Anlagentechnik, über die Peripherie (bspw. Pumpen, Abluft, Medienversorgung) hin zu den wechselwirkenden chemischen (anorganische und organische Komponenten, Abbauprodukte, pH-Wert) und physikalischen (Temperatur, Stromdichte, Stromform) Beschichtungsparametern erstreckt. Ähnlich groß ist die Anzahl der Akteure, die am Entstehen der Beschichtungen beteiligt sind. Die Beschichtungsanlage besteht dabei aus Behältern, ggfs. Fahrwagen, Gleichrichtern, Peripherie wie Pumpen und Lüftungstechnik. Je nach Komponentenhersteller liegen gegebenenfalls unterschiedliche Schnittstellen vor. Hinzu kommt der Elektrolyt, der üblicherweise von einem Verfahrenslieferanten bezogen wird. Das Beschichtungsunternehmen steht damit vor der großen Aufgabe die Vielzahl der Einzelsysteme und Komponenten miteinander und mit den eigenen Systemen und Geräten zu vernetzen, um die oben genannten Potentiale ausschöpfen zu können.
Hemmnisse auf dem Weg zur Umsetzung lassen sich ebenfalls aus den Betrachtungen der Plasmatechnik ableiten. Dabei handelt es sich um die Faktoren Zeit, die hohe Komplexität und die nötigen Investitionskosten mit einem meist in der absoluten Höhe unklaren Nutzen [6]. Diesem Aufwand-Nutzen-Konflikt lässt sich mit der Erarbeitung von allgemeinen Umsetzungskonzepten, einer inhaltlicher Aufbereitung des Themengebiets und konkreten Projektbeispielen entgegentreten.
2 Cyber-physische Produktionssysteme für die Galvanotechnik
Cyber-physische Produktionssysteme (CPPS) sind ein Kernelement der Industrie 4.0 und ermöglichen die Kopplung von physischen Elementen mit virtuellen Elementen eines Produktionssystems. In der Abbildung 1 ist der Aufbau eines solchen Systems am Beispiel der Galvanotechnik skizziert. Konkret können beispielsweise Anlagen und Maschinen mit simulations- oder datenbasierten Modellumgebungen gekoppelt werden. Datenerfassungssysteme stellen hierbei die Kopplung aus der physischen in die virtuelle Umgebung sicher und aus der virtuellen Umgebung können Steuerungssignale und/oder Entscheidungsunterstützungen für die physische Umgebung abgeleitet werden [20].
Insbesondere für die Galvanotechnik haben CPPS ein hohes Potential, da durch diese die hohe Komplexität (Kombination aus diskreter und prozessorientierter Fertigung) der Prozesse besser beherrscht werden kann. Die Abbildung des Produktionssystems in einer Modellumgebung ermöglicht ein wesentlich besseres Systemverständnis und es können hieraus neue Ansätze zur Verbesserung der Produktivität erreicht werden. Insbesondere können diese Ansätze bei der Verbesserung der Energie- und Ressourceneffizienz, der Robustheit und der Wandlungsfähigkeit der Prozesse unterstützen [18].
2.1 Physisches System: Galvanikanlage
Im Bereich von Großteilen, Spezialanwendungen und Teilen mit geringer Stückzahl ist eine manuelle Fertigung gebräuchlich. Der meistgenutzte Anlagentyp für größere Stückzahlen ist aktuell sicherlich der Galvanoautomat in Verbindung mit Gestellen oder Trommeln. Die Gestelle/Trommeln sind dabei an Warenträgern angebracht und werden innerhalb der Anlage automatisch behandelt. Das Be- und Entstücken der Warenträger bzw. Gestelle/Trommeln erfolgt dabei manuell oder über eine Automatisierung, wobei der Anteil der automatisierten Bestückung tendenziell zunimmt, aber bei weitem noch nicht als Standard flächendeckend eingesetzt wird. Eine Anlage stellt eine Ansammlung von Behältern für die Elektrolyte dar, welche über ein Transportsystem verbunden werden. Sie verfügt über alle direkt betriebsnotwendigen Ausstattungen (z. B. Sensoren an Behältern, Heizung/Kühlung, Pumpen/Filter, Gleichrichter usw.), welche durch ein übergeordnetes Steuerungssystem geschaltet werden.
2.2 Datenerfassung
2.3 Entscheidungsunterstützung und Steuerungen
2.4 Cyber System: Smart Data und Big Data
Das virtuelle cyber System, oft auch als digitaler Zwilling bezeichnet, bildet das physische System digital ab. Hierfür werden im Wesentlichen modellbasierte und datenbasierte Ansätze verfolgt, welche im Folgenden detaillierter vorgestellt werden.
2.4.1 Smart Data: Modellbasierte Ansätze
Darüber hinaus können Simulationen in diskrete und kontinuierliche Systeme unterteilt werden. In diskreten Systemen ändern sich die Variablen nur zu bestimmten Zeitpunkten, während kontinuierliche Simulationen die Abbildung zeitlicher Änderungen ermöglichen [2]. Ein Beispiel für ein diskretes Fertigungssystem ist eine Produktionslinie, bei der ankommende Teile an einer Maschine den Zustand des Modells ändern (Bauteil in Warenträger gehängt). Kontinuierliche Systeme können Prozessanlagen sein, in denen z. B. eine Chemikalie verbraucht wird. Änderungsraten können bei einem solchen System durch Differentialgleichungen oder Differenzgleichungen beschrieben werden.
2.4.2 Big Data: Datenbasierte Ansätze
Datenbasierte Ansätze sind ein mittlerweile weit verbreiteter Prozess für die Auswertung großer Datensätze. Anfänglich wurde dieser vornehmlich für die Auswertung von Internetsuchen, sozialen Netzwerken und Finanzmärkten eingesetzt. Durch die aktuellen Entwicklungen der Industrie 4.0 erhalten diese Ansätze zusehends Einsatz in der industriellen Produktion.
Mit dem CRoss-Industry Standard Process for Data Mining (CRISP-DM) gibt es einen etablierten Prozess für das Data Mining [17]. Die einzelnen Phasen können der Abbildung 3 entnommen werden. Ein grundlegender Baustein dieses Prozesses ist es, die Daten in einem Modell abzubilden und anhand von diesem Verknüpfungen und Zusammenhänge in den Daten aufzuzeigen. Hierfür werden systematisch Methoden der Statistik auf große Datenbestände angewendet [5].
Das weitergehende Maschinelle Lernen bedient sich hierbei unter anderem der Methoden des Data Minings. Dieses unterteilt sich wiederum in die Bereiche überwachtes Lernen (supervised learning) und nicht überwachtes Lernen (unsupervised learning). Beim überwachten Lernen ist es das Ziel ein Modell zu entwickeln, welches Vorhersagen zu Eingangsdaten liefern kann, zu denen kein Datensatz existiert. Bekannte Beispiele für überwachtes Lernen sind künstliche neuronale Netze KNN (artificial neural network, ANN) und Entscheidungsbäume (decision trees). Für den Bereich des nicht überwachten Lernens ist kMeans ein bekannter Algorithmus. Ziel des nicht überwachten Lernens ist es Muster und Verknüpfungen in einem gegebenen Datensatz zu finden. kMeans z. B. versucht alle Datensätze einer Gruppe (Cluster) zuzuordnen. Die Anzahl an Gruppen die gesucht wird, muss dabei vorher spezifiziert werden [10].
Algorithmen für Maschinelles Lernen sind mittlerweile in proprietärer und nicht proprietärer Software bzw. Programmiersprachen verfügbar und gut eingebunden. Software wie z. B. KNIME bieten mit ihrer GUI eine gute Übersichtlichkeit der Auswertung. Für eine kontinuierliche Auswertung und Echtzeit-Anwendungen sind jedoch Programmiersprachen zu bevorzugen, z. B. C/C++, Python, R oder Java.
Die Modelle des cyber Systems sollen genutzt werden, um das physische System positiv zu beeinflussen. Dafür können aus dem cyber System direkt Steuersignale abgeleitet werden oder eine Visualisierung ermöglicht es, die Mitarbeiter in ihren Entscheidungen zu beeinflussen.
3 Anwendungsbeispiele – Wie Industrie 4.0 in der Galvanotechnik funktionieren kann
Im Folgenden sollen ein bereits durchgeführtes und ein geplantes Vorhaben im Themengebiet I4.0 vorgestellt werden.
Galvanik 4.0. – Nutzen eines digitalen Zwillings einer Galvanikanlage
Die Herausforderung war dabei das Modell der Anlage und des Elektrolyten möglichst exakt darzustellen, damit Abweichungen zwischen dem realen System und dem Modell möglichst gering sind. Der bestimmende Faktor für die Verbrauchskennwerte ist bei einer Trommelbeschichtungsanlage vor allem die Verschleppung durch Trommel und Bauteile. In Zusammenarbeit mit dem Lohnbeschichtungsunternehmen wurden die zu beschichtenden Bauteile nach vorausgehender empirischer Messung in Verschleppungskategorien unterteilt, die anschließend im ERP System hinterlegt wurden.
Entscheidend für die erfolgreiche Umsetzung und Nutzung des Simulationsmodells war die anschließende Einbindung von realen Auftragsdaten aus der MES in das digitale Abbild, um die Veränderung des Elektrolyten aufgrund der realen Beschichtungsvorgänge nachverfolgen zu können.
Im Vergleich zu der sonst üblichen Verbrauchssteuerung über Amperestunden, die einen Mittelwert der Verschleppung im Verhältnis zur beschichteten Fläche annimmt, ergeben sich dadurch vor allem bei Häufungen einzelner Bauteiltypen deutliche Abweichungen zwischen den beiden Fahrweisen. Bei der Validierung der Algorithmen konnte mit dem Simulationsmodell eine rechnerische Genauigkeit der Konzentration eines Elektrolytbestandteils im Laufe eines Monats von durchschnittlich 2,8 % Abweichung zur chemisch analysierten Konzentration erreicht werden.
Das digitale Abbild der Beschichtungsanlage und des Elektrolyten mit seinen spezifischen Verbrauchskennwerten ermöglicht in Kombination mit den realen Auftragsdaten die rechnerische Bestimmung von Elektrolytkonzentrationen. Dies ist gerade hinsichtlich von schwer oder nur unregelmäßig bestimmbaren Elektrolytbestandteilen von großem Interesse. Durch einen digitalen Zwilling des Elektrolyten lassen sich damit zukünftig die Prozessstabilität verbessern, engere Toleranzen fahren und dadurch Kosten für Chemikalien einsparen. Einen Schritt weitergedacht, kann die Entwicklung eines digitalen Zwillings des Elektrolyten für den Ansatz eines Systems zur vorausschauenden Elektrolytwartung genutzt werden. Dieser Ansatz soll im Rahmen eines geplanten Forschungsvorhabens entwickelt werden.
Vorausschauende Wartung in der Galvanotechnik
Die Instandhaltung beinhaltet alle technischen und administrativen Maßnahmen zum Erhalt des funktionsfähigen Zustands einer Betrachtungseinheit sowie deren Wiederherstellung im Falle eines Ausfalls [7]. In der betrieblichen Praxis spielt die Instandhaltung aufgrund von hohen Kosten und Stillstandzeiten eine sehr große Rolle. Hinsichtlich der betriebswirtschaftlichen Faktoren können mangelhafte Instandhaltungsmaßnahmen zu Einbußen in der Produktionskapazität von bis zu 20 % führen [9]. Bei einer Expertenbefragung bescheinigten daher ca. 80 % der Befragten der Instandhaltung eine hohe und weiterhin steigende Bedeutung [12].
Im Rahmen eines geplanten Forschungsvorhabens stellt sich ein interdisziplinäres Team aus Industrie und Wissenschaft dieser Herausforderung, um den Wartungsprozess von Anlage und Elektrolyt zu vereinfachen und damit die Anlagen- und Elektrolytverfügbarkeit zu erhöhen. Mit Hilfe von Simulations- und Big-Data-Ansätzen soll in dem Vorhaben der Anlagenbetreiber bzw. ein Servicepartner in die Lage versetzt werden, bedarfsgerecht und vorausschauend Wartungsmaßnahmen zu ergreifen. Aus verfahrenstechnischer Sicht soll insbesondere das Konzept der Elektrolytführung mit Hilfe von Simulation und Datenauswertung weiterentwickelt werden. Ein wichtiger Bestandteil ist dabei auch die Untersuchung, welche Sensoren und die Erfassung welcher Daten tatsächlich notwendig sind, da häufig eine Vielzahl von Daten gesammelt, diese jedoch weder zentral erfasst noch analysiert und verwertet werden. Durch die Entwicklung von geeigneten Modellen und Algorithmen soll eine vorausschauende Wartung von Elektrolyt und Anlagentechnik ermöglicht werden, so dass zukünftig eine Fahrweise mit engeren Toleranzgrenzen mit einer höheren Kapazität und vor allem mit möglichst kurzen Stillstandzeiten etabliert werden kann.
4 Zusammenfassung
Das Ziel der Industrie 4.0 ist durch intelligente Vernetzung von Anlagen und Abläufen die Produktivität, die Flexibilität und die Qualität von Produktionsprozessen zu verbessern sowie Möglichkeiten für neue Geschäftsmodelle zu bilden. Die Galvanotechnik steht dabei vor der schwierigen Aufgabe der digitalen Transformation im Spannungsfeld von begrenzter Personalkapazität, unbekannten Investitionskosten und der Frage nach dem ‚wo anfangen‘ gerecht zu werden.
Das IWF der TU Braunschweig und das Fraunhofer IPA arbeiten mit verschiedenen KMU aus der Galvanotechnik daran, nützliche und umsetzbare Lösungen für die Galvanotechnik zu entwickeln, mit denen die ersten Schritte in der Umsetzung der Industrie 4.0 genommen werden können. Der aktuelle Fokus liegt dabei auf der nutzbringenden Verwendung von bereits anfallenden Daten.